Leseprobe „Unguad“
Prolog
Gott sei Dank – es ist vorbei.
Aber als die Alpträume kamen, wurde mir erst bewusst, wie sehr mich
das Erlebte erschüttert hatte. Jede Nacht graute mir vor dem Einschlafen.
Auch heute noch, Monate später, macht es mir zu schaffen. Deshalb
fing ich an, alles aufzuschreiben. Sozusagen als Therapie. Genau
dasselbe hätte ich meinen Klienten geraten.
Beim Schreiben merkte ich, dass mir einige Puzzlestücke an wichtigen
Informationen fehlten. Deshalb betrieb ich Hintergrundrecherche,
wie man so schön sagt. Ich sprach mit zahlreichen Leuten, fragte
ihnen Löcher in den Bauch. Die meisten waren so nett und haben
erzählt, auch wenn es ihnen nicht immer leichtgefallen ist. Ihnen
möchte ich danken. Auf diese Weise konnte ich mir ein vollständiges
Bild der Geschehnisse machen.
Meine Freundin Isabell meinte, das würde auch andere interessieren.
Mach ein Buch daraus!, sagte sie. Und das halten Sie nun in Händen.
Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, passierte vor einiger
Zeit in meinem Heimatort Kirchmünster. Auf den ersten Blick
ein verschlafenes Städtchen im niederbayerischen Rottal. Aber das
täuscht. Hinter der idyllischen Fassade versteckt sich allerhand.
Es begann am neunzigsten Geburtstag meines Vaters.
Dienstag, der 16. Juni
Elf Uhr vierzig
Mit ungewohnter Mühe drückte ich die Tür der Abstellkammer auf.
Während ich mein ganzes Gewicht gegen das grüne Holz stemmte,
spürte ich, dass sich dahinter etwas Unfassbares verbarg. Nennen Sie
es weibliche Intuition, wenn Sie wollen. Ich war schon immer sehr
empfänglich für Stimmungen. Energien. Meine Anstrengungen begleitete
ein leises, schleifendes Geräusch. Merkwürdig. Kaum fünfzig
Zentimeter ließ sich die Tür öffnen, irgendetwas versperrte mir den
Zutritt. Mit der Hand auf der Klinke streckte ich vorsichtig meinen
Kopf durch die Öffnung. Auf dem Arm sträubten sich in erwartetem
Grauen bereits die Härchen.
Ich sah einen Berg. Fliederfarben und weiß. Gliedmaßen lagen in
grotesker Anordnung auf dem gefleckten Linoleum. Das war ein
Mensch! Der Hals war überstreckt. Die Zunge hing zwischen den
schwülstigen Lippen. An Stirn und Schläfen klebten die kohlrabenschwarzen
Haare. Die Augen traten mit starrem Blick blutunterlaufen
hervor. Kein Zweifel. Elvira, die Pflegerin, war tot.
Mein Verstand versuchte erschreckend langsam, die Situation zu
erfassen. Mein Körper reagierte rascher. Unwillkürlich beschleunigte
sich meine Atmung, um sich dem rasenden Herzschlag anzupassen.
Meine Muskeln konnten den Blumenstrauß, für den ich eben noch
ein Behältnis gesucht hatte, nicht mehr halten, und er fiel klatschend
zu Boden. Nach Luft schnappend schloss ich kurz die Augen. Ich
wollte hier ganz schnell weg. Geschwind drehte ich mich in die Richtung,
aus der ich gekommen war, und war im Begriff loszulaufen. Da
streifte mein Blick die zartgliedrige Alte mit den weißen Dauerwellenlocken.
Sie hatte mir vorher hilfsbereit den Tipp mit der Abstellkammer
gegeben. Reglos beobachtete sie mich, beide Hände auf
den Rädern ihres Rollstuhls, bereit sich hierher in Bewegung zu setzen.
Endlich schien auf Station zwölf etwas Interessantes passiert zu
sein.
Ich wandte mich um, schloss fest die Tür. Suchte nach einem
Schlüssel oder einer anderen Möglichkeit hier abzusperren. Ohne Erfolg.
Dann musste es eben so gehen. Ich eilte an ihr vorbei. »Bleiben
Sie von der Kammer weg und lassen Sie auch sonst niemanden hin –
ein!«
Ihr Mund klappte auf. Wer weiß, ob meine Ermahnung überhaupt
gehört worden war, geschweige denn, ob sie befolgt würde.
Egal, ich hatte keine andere Wahl. Ich hastete weiter, zurück zum
Zimmer meiner Eltern, das ich vor fünf Minuten sorglos verlassen
hatte.
Ganz in Gedanken bei der Tischordnung für das Geburtstagsessen
war ich den langen grauen Gang entlanggeeilt, auf der Suche nach einer
Vase.
Der dritte Bürgermeister wollte kommen. Wo sollte ich den am
besten hinsetzen? Natürlich neben meinen Vater, schließlich war es
sein Geburtstag. Sein neunzigster sogar. Deshalb hatte ich am Morgen
auch diesen riesigen Blumenstrauß in meinem Garten für ihn gepflückt.
Den trug ich wie ein Baby im Arm vor mir her und suchte
die Abstellkammer. Las die Schilder an den Türen. Hier musste es irgendwo
sein. Die alte Dame hatte gelächelt und mit ihrem gichtgekrümmten
Zeigefinger auf eine grüne Tür gedeutet. Ich hatte genickt
und ebenfalls gelächelt. Arglos.
Noch eine halbe Stunde früher war es einfach ein strahlend schöner
Junitag gewesen, der wie geschaffen dafür schien, diesen besonderen,
runden Ehrentag zu begehen. Wir hatten uns Zeit genommen,
sogar mein Mann Martin hatte Termine im Krankenhaus verschoben,
um pünktlich beim Festessen dabei zu sein. Zu sechst drängten
wir uns in das Wohnzimmer meiner Eltern.
»Alles Gute zum Geburtstag!« Ich hielt den großen Strauß mit den
bunten Sommerblumen weit von mir weg, damit ich meinen Vater
umarmen konnte.
»Herzlichen Glückwunsch, Apukám! Ich hoffe, du lebst noch viele
Jahre in Zufriedenheit und Gesundheit.« Ich drückte ihm einen
Kuss auf seine perfekt rasierte, faltige Wange. Ganz offensichtlich hatte
er sich heute besondere Mühe mit seinem Aussehen gegeben. Die
scharfen Bügelkanten seiner feinen dunkelgrauen Anzughose waren
mir sofort ins Auge gestochen. Das seidene Einstecktuch passte zur
Krawatte und aus der Westentasche hing die goldene Uhrkette. Bevor
er etwas erwidern konnte, löste mich Martin schon ab.
»Meine Gratulation, Tibi!« Er schüttelte seinem Schwiegervater
kräftig die Hand und übergab ihm die Flasche mit Barack Pálinka, ei-
nem ungarischen Aprikosenschnaps. Seiner »Medizin«, wie mein Vater
sich immer auszudrücken pflegte.
Dann drängelten sich die Mädels vor. Tibor von Markovics’ graue
Augen leuchteten. Lilli, Susa und Vicky umarmten und herzten ihren
geliebten Opa. Zur Feier des Tages hatten sie ihre zerrissenen Jeans
gegen Röcke und Sommerkleider eingetauscht. Ihre blonden Haare
waren zu sittsamen Frisuren gebändigt, und ihre Füße bekleideten
Ballerinas anstatt Hip-Hop-Sneakers. Adrett sahen sie aus. Wie Mädchen
seiner Meinung nach auszusehen hatten. Sie legten ihm ihre
selbst gemachten Geschenke in den Schoß. Während wir schon die
Oma begrüßten, die strahlend danebenstand, trat Linus vor. Ungelenk
hatte er seine Rechte zur Gratulation ausgestreckt. Tibor hatte
sie genommen und seinem Enkel verschmitzt zugezwinkert. Dieser
hatte seinen Mund zu einem halben Lächeln verzogen, froh, vom
Opa auch wortlos verstanden worden zu sein.
Aber jetzt kehrte ich ohne Vase zurück. Ich war etwas zittrig auf
den Beinen. Der Schreck über meinen grausigen Fund wartete lauernd
darauf, aus mir herausbrechen zu können. Ich befahl mir, Ruhe
zu bewahren und einfach zu funktionieren.
Das Leben liebt jedoch Gegensätze. Und so hörte ich aus dem
Zimmer meiner Eltern fröhliches Stimmengewirr. Anscheinend waren
noch mehr Gratulanten eingetroffen. Ich atmete ein paarmal tief
durch, um mich etwas zu beruhigen. Dann öffnete ich vorsichtig die
Tür, um sie niemandem in den Rücken zu rammen. Das war gut so,
denn der Raum war überfüllt mit Leuten. Inzwischen schien auch
der Fotograf der Passauer Neuen Presse angekommen zu sein. Der
Mann mit dem beeindruckenden Fotoapparat war gerade damit beschäftigt,
alle Enkel samt drittem Bürgermeister um den Jubilar zu
drapieren. Bei all dem Trubel achtete niemand auf mich, wie ich auf
Zehenspitzen in der Tür stand und winkend versuchte, Martins Blick
auf mich zu lenken. Es dauerte eine ganze Weile, bis mein Ehemann
auf mich aufmerksam wurde. Er zog seine Augenbrauen in die Höhe.
Ich verstärkte mein Winken. Endlich bahnte er sich einen Weg zu
mir.
»Was ist denn?« Er trat hinaus auf den Gang.
Möglichst schnell und leise schloss ich hinter ihm die Zimmertür.
»Los! Komm mit! Ich habe eine Leiche gefunden!« Ich packte ihn am
Arm, Martin blieb jedoch wie angewurzelt stehen.
»Was? Karin, das gibt’s doch nicht! Soll das ein schlechter Scherz
sein?« Ungehalten schaute er von seinen eins neunzig auf mich herab.
»Nein! Komm schon, dann kannst du dich selbst überzeugen!« Der
Skeptiker! Ich ließ ihn los und eilte davon. Widerstrebend folgte er mir
durch den langen Gang zur Abstellkammer.
Die alte Dame von vorhin hatte sich vorsichtig näher an die Tür
gerollt und schien nach Geräuschen im Zimmer zu lauschen. Als sie
uns hörte, schrak sie auf und schaute mich mit beinahe ängstlichen
Augen an.
»Ich hab nix g’macht.« Sie schüttelte den Kopf. »Es is keiner eini.«
»Prima. Danke. Aber jetzt müssten wir hier mal bitte durch.« Sie
zog sich von ihrem Wachposten zurück, und ich öffnete für Martin
die Tür, so weit es eben möglich war. Er schlüpfte vorbei. Ein leises
»Oh mein Gott!« entfuhr ihm und rasch kniete er sich nieder, um bei
Elvira den Puls zu suchen. Vergeblich.
Ich schaute ihm zu und versuchte, meine Übelkeit zu ignorieren.
In Elviras Gesicht konnte ich nicht sehen. Sie war schon zu Lebzeiten
keine Schönheit gewesen. Viel zu maskulin und plump. Der Todeskampf
hatte noch sein Übriges getan. Ich wandte meinen Blick ab
und ließ ihn durch den Raum schweifen. Bis auf Elviras unappetitliche
Leiche konnte ich allerdings nichts Ungewöhnliches entdecken.
An den Wänden ragten Metallregale bis zur Decke hinauf. Auf ihnen
stapelten sich die unterschiedlichsten Dinge. Auch Blumenvasen wären
darunter gewesen. Links befand sich ein Schrank, eine Tür war geöffnet.
Ich erkannte Leintücher und Bettwäsche. Möglicherweise
hatte die Pflegerin gerade frische Wäsche holen wollen. Einige Sachen
lagen auf dem Boden neben dem skurril verdrehten Körper. Diese
schien Elvira in ihren letzten Minuten unkontrolliert aus den Regalen
gewischt zu haben. Laken, ein Aschenbecher, alte Kippen, blaue
Tassen aus Plastik, Packungen mit Inkontinenzwindeln und seltsamerweise
ein paar Weihnachtsgirlanden, die aus einem Pappkarton lugten.
Am Oberlicht summte es wütend. Ich schaute hinauf. Eine
Wespe versuchte vergebens, in die Freiheit zu gelangen.
Mit meinem Körper verdeckte ich den Türspalt vor den neugierigen
Blicken der alten Frau. »Was is passiert?«, wollte sie wissen. Um
eine Antwort drückte ich mich und tat so, als ob ich sie nicht gehört
hätte.
Martin drehte sich zu mir um. Er zeigte auf Elviras rechte Hand,
die sie zu einer Faust zusammengepresst hatte. Sie hielt etwas fest. Einen
länglichen Behälter mit einem schnabelartig gebogenen Aufsatz.
»Weißt du, ob sie Asthma hatte?«
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Es ist wohl am besten, wenn du die Polizei rufst. Ich halte hier die
Stellung.«
»Gut!« Damit sauste ich wieder zurück. In meinem Rücken vernahm
ich, wie mein Mann vor der Zimmertür beruhigend auf die
Rollstuhlfahrerin einredete. Als Arzt wird er die richtigen Worte finden,
dachte ich mir.
Um nicht jetzt schon die ganze Geburtstagsgesellschaft aufzuscheuchen,
nahm ich nicht den Telefonapparat im Zimmer meiner
Eltern, sondern schaute ins Schwesternzimmer. Keiner da. Na, dann
musste es ohne Fragen gehen. Ich wählte die Nummer der hiesigen
Polizei. Seit den Aufregungen im letzten Jahr kannte ich sie auswendig.
»Polizeiinspektion Kirchmünster. Polizeiobermeister Grieshuber.«
Oh nein, nicht der schon wieder! Ich stöhnte innerlich auf. Sofort
erschien vor meinem geistigen Auge die etwas plumpe Figur des Po –
lizisten. Wahrscheinlich trug er seine spärlichen Haare nach wie vor
sorgsam über die Glatze gekämmt.
»Grüß Gott, Herr Grieshuber. Hier ist Schneider, Karin Schneider.
« Ich überhörte den Schnaufer auf der anderen Seite der Leitung
und sprach fix weiter. »Ich bin im Altenheim, also Haus Sonnenhügel,
und muss eine Leiche melden. Kommen Sie schnell!«
»Ah, d’ Frau Schneider, wir kennen uns, ned?«
»Ja, wir hatten letztes Jahr einige Male das Vergnügen …« Weiter
ausholen wollte ich nicht. Denn dann hätte ich ihn daran erinnern
müssen, dass er damals auch schon schwer von Begriff war und mir
nichts geglaubt hatte. Bei der Sache mit dem Kirchplatz und dem
Landrat.
»Und Sie sogn, es gibt im Sonnenhügel a Leich? Pardon, aber is des
dort ned normal?«
Ich stutzte. Ach so. Sehr witzig. »Nein, nicht so eine Leiche.« Ganz
langsam, jedes Wort einzeln betonend, fuhr ich fort: »Ich habe die
Pflegerin Elvira von Station zwölf tot in der Abstellkammer gefunden!
« Herr im Himmel, schick mir Geduld!
»Des is unguad.«
»Ja, kann man wohl sagen. Übrigens hat mein Mann eindeutig den
Tod festgestellt.«
»Aha. Der Herr Doktor. Ja dann. Bleiben S’ dort und halten S’ earna
zur Verfügung. Mir san glei do.«
Na also. Ich wusste ja, dass das Ärzteargument immer zieht.
Zwölf Uhr zwanzig
Kerstin Schmalhofer und Adam Hecker, die beiden Pflegekräfte, die
heute für die Frühschicht eingeteilt und somit voll in das Tohuwabohu
des Leichenfundes geraten waren, waren von Schwester Sieglinde
ins Schwesternzimmer gerufen worden. Sie hatte die Leitung der Station
zwölf und stellte etwas Grundsätzliches klar:
»Ich möchte nicht, dass ihr mit den Bewohnern über Elvira sprecht.
Kein Getratsche. Das schadet nur dem Ruf unseres Hauses.«
Kerstin war ein wenig blass geworden. Sie ließ sich auf den nächstbesten
Stuhl nieder. Adam Hecker brütete missmutig vor sich hin.
»Ihr habt mich verstanden. Kein Wort!« Schwester Sieglinde klopfte
mit ihrem Kugelschreiber auf den vor ihr liegenden Dienstplan.
»Wer von euch geht übrigens zur Trauerfeier von Frau Bründl? Die
ist heute um vierzehn Uhr.«
»Das kann ich machen«, bot sich Kerstin an. »Das letzte Mal, beim
Herrn Berghauser, ist die Marion gewesen, und davor beim Herrn
Woitaschek der Adam. Es sterben ziemlich viele im Moment.« Sie
war recht niedergedrückt.
»So ist das nun mal in einem Altenheim. Geht wieder an eure Arbeit.«
Damit waren sie entlassen.
Zwölf Uhr dreißig
Es wurde für meinen Vater ein chaotischer Geburtstag. Sie können
sich sicherlich vorstellen, was im Sonnenhügel los war, nachdem die
Polizei samt Spurensicherung in die Station zwölf eingefallen war und
die Ermittlungen aufgenommen hatte. Zu allem Überfluss bekam der
Reporter, der eben noch den Jubilar fotografiert hatte, Wind davon.
Hätte mich auch gewundert, wenn es nicht so gewesen wäre. Er
konnte sein Glück gar nicht fassen, als erster Zeitungsmensch am Tatort
zu sein und Fotos zu schießen. Die Polizisten scheuchten ihn immer
wieder weg und sperrten den Bereich um die Abstellkammer
großräumig ab. So ein Journalist muss allerdings hartnäckig sein, sonst
kann er gleich Artikel für die Apotheken-Rundschau verfassen.
Er nutzte die Gunst der Stunde, um mich, meinen Mann, die
Schwestern und Pflegerinnen auf der Station, die Dame im Rollstuhl
sowie andere Heimbewohner und Besucher zu interviewen. Allerdings
waren alle viel zu aufgeregt, um mehr als nur »wie schrecklich«
von sich zu geben. Zu guter Letzt wurde es der Polizei zu bunt und gegen
den Reporter erging die dringende Aufforderung zu verschwinden.
Anscheinend hatte der Zeitungsmensch fürs Erste auch genug
Informationen zusammengetragen, denn er trollte sich ohne großen
Protest.
Der Flur mit den Sitznischen war an der Absperrung mit Schaulustigen
übervölkert. Der Tod von Elvira hatte sich in Windeseile
her umgesprochen, und so kamen alle, die sich noch selbstständig bewegen
konnten. Diejenigen, die meinten, mehr zu wissen als ihre
Nachbarn, ventilierten lautstark ihre Ansichten. Jeder, der neu dazugestoßen
war, wurde über den aktuellen Stand der Mutmaßungen informiert.
Auch mein Vater hatte sich mit meiner Mutter und seinen
Gratulanten hierher begeben. Auf seinen schwarzen Spazierstock gestützt
– seinen Rollator benützte er nur an schlechten Tagen – stand
er aufrecht im guten Anzug zwischen den tratschenden Frauen und
Männern in ihren abgetragenen Alltagskleidern. Ganz der Patriarch,
der er immer sein wollte. Seine für sein Alter immer noch sehr fülligen
weißen Haare fielen in herrschaftlichen Wellen um sein Gesicht.
Sie verliehen ihm ein aristokratisches Aussehen. Dieser Eindruck
wurde durch die leichte Hakennase in seinem schmalen Gesicht und
das sehr ausgeprägte Kinn noch unterstrichen. Das verstärkte die natürliche
Autorität seines Auftretens.
Er sah beobachtend von den Polizisten zu den Schwestern und den
Gang hinunter zur Absperrung. Seine Miene blieb ausdruckslos, während
meine Mutter an seinem Arm hing und sorgenvoll um sich blickte.
Ich drängelte mich zwischen all den alten Leuten zu ihm durch.
Dabei stellte ich überrascht fest, dass alle kleiner waren als ich. Eine
Kunst bei meiner Größe von einem Meter sechsundsechzig.
Ich beugte mich hinüber. Den Lärm um uns herum so gut es ging
übertönend, sprach ich laut und deutlich in sein rechtes, das heißt gutes
Ohr: »Es tut mir leid, dass das hier deinen Geburtstag so durchein –
anderbringt. Geh doch mit deinen Gästen ruhig schon hinunter ins
Lokal zum Essen. Ich muss auf einen von der Kriminalpolizei warten,
der mich befragen will. Das hat man mir mitgeteilt. Es wird also noch
etwas dauern, bis ich kommen kann.«
»Stimmt es, dass die Tote die Elvira ist?« Gegenfrage statt Antwort.
Das war ich jedoch schon seit vierundvierzig Jahren gewohnt.
»Ja«, gab ich als brave Tochter Auskunft.
»Und wie ist sie umgekommen?«
»Das weiß man noch nicht.« Ich würde jetzt keine Einzelheiten
ausplaudern, auch wenn er das erwartete. Allzu gehorsam sollte man
nie sein.
»Karin! Dein Mann hat sie doch untersucht!« Aha, er hatte es also
gehört und ließ nicht so leicht locker.
»Ja, aber die Todesursache wird erst in der Obduktion festgestellt.
Außerdem ist das hier nicht der richtige Ort, darüber zu reden.« Meine
Hand beschrieb einen Bogen und machte ihn auf die Umstehenden
aufmerksam. Mein Vater sagte nichts mehr. Für dieses Mal gab er
sich zufrieden.
Er drehte sich um und ging mit seinem Hofstaat zum Essen. Ein
paar Momente schaute ich ihm hinterher. Ein alter Mann, auf Haltung
bedacht. Allerdings wusste ich, dass ihn der heutige Festtag mehr
Kraft kostete, als er zugeben würde. Und jetzt noch das Schlamassel
mit der toten Pflegerin! Ich seufzte.
Das Gemurmel um mich herum war lauter geworden. Eine Frau
neben mir stieß ihre Nachbarin an und zischte: »Schau, noch mehr
Polizei!« Da blickte auch ich wieder in Richtung Abstellkammer.
Und richtig. Jetzt waren Beamte in Zivil eingetroffen und besprachen
sich mit den Kollegen in Uniform. Ein jüngerer Mann mit einer
zerknitterten beigen Popelinejacke und einer leicht windschiefen
Haltung registrierte die Ansammlung der Bewohner und winkte
Schwester Sieglinde zu sich. Ein knappes Gespräch, ein Telefonat und
schon hörte man die Wagen mit den Mittagessentabletts aus dem
Aufzug poltern. Die Altenpflegerin forderte die Senioren auf, sich
für das Essen in ihre Zimmer zurückzuziehen oder in den Gemeinschaftsraum
zu kommen. Manche murrten. Als die Schwester den
ersten Rollstuhlfahrer jedoch resolut in das gemeinschaftliche Speise-
zimmer schob, gaben sich die anderen geschlagen und schlurften leise
schimpfend von dannen.
Ich beobachtete, wie Martin herbeigerufen und zur Befragung in
ein leeres Zimmer geführt wurde. Ein bisschen unschlüssig stand ich
neben einer Couch herum. Wahrscheinlich würde ich auch gleich
vernommen. Schließlich hatte ich die Leiche entdeckt. Da lohnte es
sich wohl kaum, nach unten ins Lokal zu gehen und nach meinem
Vater zu sehen. Also setzte ich mich hin. »Sitzen kostet genauso viel«,
hat meine Oma immer behauptet.
Die Leute von der Spurensicherung packten ihre Koffer zusammen.
Vermutlich würde auch bald die Leiche abtransportiert werden.
Da musste ich nicht unbedingt zusehen. Mein Bedarf an Leichenschau
war eindeutig gedeckt. Hoffentlich holte man mich bis dahin
zur Befragung ab. Ja, die Tür ging auf, Martin und der Mann im Knitterlook
kamen heraus. An wen erinnerte er mich bloß? Nun schaute
er mich an und gab mir ein Zeichen. Aha, jetzt war ich wohl dran. Ich
stand auf und begab mich in Richtung Vernehmungszimmer. Da fiel
mir plötzlich ein, mit wem der Polizist eine Ähnlichkeit hatte. Mit
Columbo! Natürlich! Der knuffige amerikanische Fernseh-Kommissar
meiner Kindheit, klar. Wie von selbst musste ich schmunzeln –
nein, das ging nicht. Ich biss mir auf die Lippen. Es war pietätlos, einfältig
zu grinsen, wenn man über seinen Leichenfund befragt werden
sollte. Martin hatte auch bereits tadelnd die Augenbrauen zusammengezogen.
»Ich gehe jetzt mal zu den anderen. Du kannst ja nachkommen.«
Ich nickte.
»Grüß Gott, Schneider«, stellte ich mich vor und gab dem Columbo-
Double die Hand. Das machte man wohl auch nicht, wie ich
aus seiner zögerlichen Reaktion schloss. Na, egal.
»Kriminalkommissar Braun«, stellte er sich mit einer leichten Verneigung
des Kopfes vor, ließ mir den Vortritt und schloss die Tür.
»Und das ist Kriminalhauptkommissarin Langenscheidt.«
Tatsächlich! Da war eine Frau. Welch positive Überraschung! An
einem kleinen, lackierten Holztisch saß eine jüngere Polizistin mit
blondem, akkurat fallendem Pagenschnitt. Jünger, na ja, wohl auch
schon Anfang dreißig, aber halt einige Jahre weniger als ich. Tadellos
gekleidet in Chino und hellgrauer Bluse. Sie notierte noch etwas auf
ihrem Block, jetzt schaute sie auf und… Mein Gott, hatte die grüne
Augen! Smaragdgrün. Sie erhob sich und streckte mir, im Gegensatz
zu ihrem Kollegen, freiwillig ihre Hand entgegen. Ein fester Händedruck,
nicht unangenehm. Man sagt ja immer, dass sich Menschen innerhalb
von drei Sekunden taxieren und entscheiden, was sie vom anderen
halten. Nun, mir war die Hauptkommissarin sympathisch.
Kommissar Braun setzte sich zu ihr an den Tisch, ich bekam den
dritten Stuhl angeboten. Meine Personalien wurden aufgenommen,
meine Verbindung zum Heim festgehalten. Dann musste ich schildern,
wie ich Elvira gefunden hatte. Keine leichte Aufgabe, aber ich
stand es durch.
»Nach dem jetzigen Kenntnisstand wissen wir nicht, ob Fremdverschulden
vorliegt. Das wird erst die Sectio der Frau Böhm ergeben.
Daher, Frau Schneider, vielen Dank für Ihre Hilfe. Wenn Ihnen
noch etwas einfallen sollte, hier meine Karte. Scheuen Sie sich nicht
mich anzurufen.« Kommissarin Langenscheidt sagte das sehr freundlich,
und ich hatte den Eindruck, es sei ernst gemeint.
»Ja, danke, werde ich machen. Auf Wiedersehen.«
Vor der Tür hielt ich kurz inne und sammelte mich. Nach einem
Unfall hatte das wirklich nicht ausgeschaut. Aber ein Mord im Heim?
Konnte man eigentlich kaum glauben. Vor allem: Wer hätte wegen Elvira
solch emotionale Flutwellen empfinden sollen, dass er sie tatsächlich
umbrachte? Das war außerhalb meiner Vorstellungskraft. Jetzt
musste ich jedoch zum ursprünglichen Plan zurückkehren und mit
meinem Vater zu Mittag essen.
Ich eilte wieder die Gänge entlang, in denen es nach diesem typischen
Gemisch von Desinfektionsmitteln, Inkontinenz und Essen mit
Soße roch. Schon als Kind hatte ich diesbezüglich unter meinem ausgezeichneten
Geruchsvermögen gelitten. Zwei meiner Großtanten
hatten in ärmlichen Verhältnissen im Altersheim gewohnt. Bei jedem
Besuch hatte ich versucht, die Luft anzuhalten oder andere Tricks und
Kniffe ausprobiert, um nichts riechen zu müssen. Meine Bemühungen
waren stets erfolglos.
Nun war ich älter, meine Nase vielleicht schon etwas abgestumpft
und diese Seniorenresidenz hielt viel auf Sauberkeit. Trotzdem nahm
mein Geruchssinn die Ausdünstungen auf, und mein limbisches System
erinnerte mich an meine Kindheitsnöte. Automatisch atmete ich
flacher und versuchte, mich abzulenken. Ich kam am Zimmer meiner
Eltern vorbei und warf einen Blick hinein. Keiner drin. Mein Blu-
menstrauß prunkte auf der Kommode. In eine Vase gerettet und nur
ein bisschen ramponiert. Schön! Tür zu und weiter. Ich ließ den Aufzug,
der meine Geduld regelmäßig arg auf die Probe stellte, links liegen
und nahm die Treppe.
Im Restaurant saßen noch die Geburtstagsgäste um meinen Vater
am Tisch. Nur die Offiziellen, der dritte Bürgermeister, die Gratulantin
der Caritas und die Vertreterin des VdK, waren nicht mehr da.
Auch gut, dann waren wir unter uns. Soweit man das hier sein konnte.
Denn der ungewöhnliche Todesfall schien alle durstig gemacht zu
haben. Fast jeder Platz war besetzt und die Heimbewohner diskutierten
über die Sensation. Ich schaute mich um und entdeckte einige,
die ebenfalls auf Station zwölf wohnten. Sie waren Informanten der
ersten Stunde und daher als Gesprächspartner natürlich besonders gefragt,
genossen ihre Vorrangstellung. Manch schlaffe Wange hatte sich
leuchtend rot gerundet.
Ganz hinten im Eck hockte allein der Hinterdobler in seinem
Rollstuhl und schien aus dem Fenster zu blicken. Seit seinem Schlaganfall
wusste man nicht so genau, wie viel er von seiner Umwelt mitbekam.
Wegen seiner unrühmlichen Vergangenheit war unser ehemaliger
Landrat unter seinen Mitbewohnern nicht gerade beliebt.
Einem mutmaßlichen Mörder mochte man beim Mittagessen nicht
unbedingt gegenübersitzen. Deshalb kümmerte sich keiner um ihn.
Tief gefallen, der Herr Hinterdobler.
Ich wandte mich ab und setzte mich endlich zu meiner Familie. Sie
hatten die Nachspeise schon beendet und waren bei Espresso und
Schnaps angelangt. Das konnte ich jetzt gleichfalls vertragen und gab
der Bedienung ein entsprechendes Zeichen. Lilli, meine Älteste, beugte
sich zu mir herüber und fragte mich flüsternd, ob es etwas Neues
gäbe. Ich schüttelte den Kopf.
Mein Vater erzählte gerade eine »Geschichte von früher«. Davon
hat er einen erstaunlichen Vorrat und große Freude daran, ihn mit
anderen zu teilen. »1942 wurde ich doch noch eingezogen. Da war
ich Anfang zwanzig. Zu den Fliegern. Ich! Mit meiner Flugangst!
Wir hausten in Baracken, zehn Mann in einem Raum, Feldbetten,
provisorische Spinde, ein einziges Waschbecken, Toilette vor der Tür,
sonst nichts. Am nächsten Morgen sollten wir zum ersten Mal fliegen.
Ich hatte unglaubliche Angst und die Nacht nicht geschlafen. Als
Appell war und wir auf dem Vorplatz antreten mussten, bin ich in die
Baracke zurück, so als ob ich was vergessen hätte, und hab mich unter
dem Feldbett ganz hinten in der Ecke versteckt. Dort hab ich gewartet,
bis alle anderen in der Luft waren.«
Diese Story gefiel Linus besonders gut. Obwohl ich mich bemüht
hatte, ihn pazifistisch zu erziehen – oder vielleicht auch gerade deswegen
–, übten Geschichten über Soldaten, Kämpfe und Krieg auf
ihn mit seinen fünfzehn Jahren eine geradezu magische Faszination
aus. Ich wusste nicht, ob ich mir Sorgen machen sollte. Diese Begebenheit
hatte er schon einige Male gehört und war deshalb ein prima
Stichwortgeber.
»Bist du dann vors Kriegsgericht gestellt worden, Opa?«
»Die Deutschen hätten das gemacht, aber nicht die Ungarn, Linus.
Die haben eingesehen, dass ich für die Luftwaffe nicht taugte.« Zur
Bekräftigung dieser vernünftigen Vorgehensweise kippte er den Rest
seines Verdauungsschnapses mit einer gekonnten Bewegung hinunter.
Er beugte sich zu seiner Frau hinüber: »Muzikám, hast du vor,
noch länger zu bleiben?«
»Ich wart ja nur auf dich.«
»Dann werde ich mich jetzt zurückziehen, ich bin müde. Vielen
Dank für euer Kommen.«
»Und die zahlreichen Geschenke!«, fügte meine Mutter hinzu,
schon im Aufstehen begriffen. Wenn mein Vater etwas wollte, musste
es sofort geschehen. Auch ich sprang auf, um ihm beim Hochkommen
zu helfen. Ein bisschen wackelig hielt er sich am Tisch fest,
ich gab ihm seinen Stock. Mit Willenskraft richtete er sich auf und
ging, auf meine Mutter gestützt, die Gäste verabschiedend, aus dem
Lokal.
Vierzehn Uhr dreizehn
Die Kommissarin war mit ihrem Kollegen inzwischen in das Zimmer
der Heimleitung im Erdgeschoss umgezogen. Auf der Station brachte
ihre Anwesenheit zu viel Unruhe. Frau Imhoff, die Leiterin, trat
ihren Raum allerdings nur sehr widerwillig ab. Sie hasste es, wenn jemand
in ihr Territorium eindrang.
Im Moment studierte Kommissarin Langenscheidt die Personalakte
von Elvira Böhm. Frau Imhoff war gebeten worden zu bleiben,
um Fragen beantworten zu können. Das behagte ihr ganz und gar
nicht. Sie saß auf ihrem eigenen Besucherstuhl, die Beine übereinandergeschlagen,
die spitze Nase provokant in die Luft gestreckt. Wenn
die Polizei doch nur schon wieder draußen wäre aus ihrem Heim!
»Ich sehe, Frau Böhm war in den letzten Monaten häufig krankgeschrieben.
Was waren die Gründe?«
»Da müssen Sie schon ihren Arzt fragen. Ich bekomme ja immer
nur die Krankmeldungen. Dort ist kein Grund vermerkt.«
Kommissarin Langenscheidt schaute verblüfft von den Unterlagen
auf. Der Ton war mehr als schnippisch. Nun gut, darauf konnte sie sich
einstellen.
»Aber Sie als Chefin werden sich doch bei Ihrer Angestellten erkundigt
haben, warum sie krank war.«
Frau Imhoff schlug ihre Beine in die andere Richtung übereinander.
»Dazu ist hier keine Zeit. Sie können sich nicht vorstellen, wie
viel Arbeit wir haben.«
Darauf ging die Kommissarin nicht ein. »Sicherlich haben Sie regelmäßig
Mitarbeitergespräche geführt.«
»Das sieht meine Arbeitsbeschreibung nicht vor.«
»Aha.« Die beiden Frauen taxierten sich. Sie liebt Machtspielchen,
dachte die Kommissarin. Laut sagte sie: »Bei Frau Böhm wurde ein
Asthmaspray gefunden. Wissen Sie etwas über eine Asthmaerkrankung?«
»Natürlich.«
»Ah ja?«
Frau Imhoff beugte sich vor und blätterte in der Personalakte. »Das
steht ja auch hier. Da ist der Bescheid des Versorgungsamtes. Es wurde
ein Grad der Behinderung von zwanzig Prozent festgestellt.«
»Hatte Frau Böhm Anfälle?«
»Nicht, dass ich wüsste. Sie hatte ja ihr Spray. Am besten fragen Sie
Schwester Sieglinde. Frau Schönhuber. Das ist die Stationsleiterin.«
»Dann holen Sie mal Frau Schönhuber.«
Frau Imhoff starrte die Kommissarin an. Schlussendlich griff sie
über den Schreibtisch zu ihrem Telefonhörer und tippte eine zweistellige
Nummer. Im Nebenzimmer läutete es.
»Frau Zwicknagl, sagen Sie doch der Schwester Sieglinde Bescheid,
dass die Polizei sie sprechen möchte.« Sie legte wieder auf und
lehnte sich zurück.
»Sie können einstweilen gehen, Frau Imhoff. Aber halten Sie sich
bitte zu unserer Verfügung.«
Ohne ein weiteres Wort rückte die Heimleiterin ihren Stuhl geräuschvoll
nach hinten und stolzierte aus dem Zimmer. Die beiden
Polizisten schauten sich kopfschüttelnd an.
»Hans, ruf doch mal bei dem Hausarzt von der Frau Böhm an und
bitte ihn, er soll uns die Liste der Erkrankungen und der verschriebenen
Medikamente an die Dienststelle faxen. Und die sollen es mir sofort
rüberschicken.« Damit schob sie ihm die Akte zu.
Kommissar Braun hängte sich ans Telefon. Es klopfte an der Tür.
Schwester Sieglinde kam forschen Schrittes herein.
»Sie wollten mich sprechen?«
»Ja, grüß Gott, Frau Schönhuber. Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Die Kommissarin zeigte auf den Stuhl vor ihrem Tisch. »Sie sind die
Leiterin der Station zwölf?«
»Ganz richtig.«
»Gut. Was können Sie uns über die Asthmaerkrankung der Frau
Böhm erzählen?«
Schwester Sieglinde setzte sich zurecht. »Meiner Meinung nach
war es nicht so schlimm. Sie war ein wenig kurzatmig. Anfälle hatte
sie allerdings keine. Zumindest nicht in der Arbeit. Wenn es mit dem
Atmen mal schwerer ging, hat sie ihr Spray benutzt.« Sie faltete ihre
Hände unter ihrem imposanten Busen. »Aber wenn Sie mich fragen,
war das Show.«
»Show?«, hakte die Kommissarin nach.
Schwester Sieglinde nickte. »Sie war nicht eine der Fleißigsten.
Und sie machte gern eine Pause. Da war so ein bisschen pfeifend atmen
und demonstrativ sprayen ganz praktisch.«
»Aha. Frau Böhm war in letzter Zeit oft krankgeschrieben. Wissen
Sie, warum?«
Die Schwester blinzelte und schaute in die rechte obere Zimmerecke.
»Nein.«
»Sie haben sie nie danach gefragt?«, fasste die Kommissarin nach.
»Für großartige Privatgespräche fehlt uns die Zeit.«
»Nun gut.« Langsam bekam die Kommissarin ein Bild vom Arbeitsklima
auf der Station. »Ist Ihnen heute Vormittag etwas Besonderes
aufgefallen?«
»Heute war ein enormer Betrieb. Gerade als wir mit Aufstehen,
Waschen und dem Frühstück fertig waren, kamen schon die ersten
Gäste für Herrn von Markovics. Der feiert heute seinen Neunzigsten.
Geburtstag«, schob sie zur Erklärung nach. »Alle fragten nach seiner
Zimmernummer, mit dem Bürgermeister kam der Reporter von der
Passauer Neuen Presse, sie brauchten zusätzliche Stühle, und so weiter.
Zur gleichen Zeit vermisste eine Bewohnerin etwas und machte
ein ziemliches Drama daraus. Die mussten wir beschwichtigen. Wir
wollten ja nicht, dass die Zeitung davon Wind bekommt und einen
Diebstahl vermutet.« Sie lachte. Von den Polizisten kam keine Reaktion.
»Ja.« Frau Schönhuber hüstelte. »Dann hatte ein Bewohner Magen-
Darm-Grippe und dementsprechende Schwierigkeiten. Sie verstehen?
Da mussten Herr Hecker und ich ihn nochmals waschen und
umziehen.«
»Zu zweit?«
»Ja, er ist bettlägerig und zu zweit geht es mit dem Heben und
Wenden schneller. Vor allem, weil ihm wieder schlecht geworden ist,
als wir schon fast fertig waren. So ist das manchmal.«
Die Kommissarin nickte. »Wissen Sie, warum Frau Böhm in der
Abstellkammer war?«
»Keine Ahnung. Sie wird etwas geholt haben.«
Das Handy der Kommissarin vibrierte. »Einen Augenblick bitte.«
Sie berührte das Display und las. »Wissen Sie, dass Frau Böhm Diabetes
hatte?«
Die Schwester schüttelte den Kopf.
»Allergien?«
»Wenn ich so darüber nachdenke: Im Frühjahr benutzte sie ihr
Spray häufiger. Sie erwähnte auch mal, dass sie gegen Pollen allergisch
sei. Ach ja, und Wespenstiche. Bei Wespen flippte sie aus.«
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Waren Fremde auf der
Station?«
»Massenhaft. Die Gäste vom Markovics.«
»Ja, die Liste haben wir schon. Sonst noch wer?«
»Nein, mir ist niemand aufgefallen.«
»Gut, das wäre einstweilen alles.« Kommissarin Langenscheidt entließ
sie, und die Schwester eilte aus dem Raum.
Fünfzehn Uhr vierzig
Zimmernummer 1203, das Wohnzimmer der von Markovics’. Es
klopfte an der Tür. Keine Antwort. Heidemarie Wieland öffnete dennoch
und blickte vorsichtig hinein. Sie blinzelte gegen die Helligkeit
an, die die Nachmittagssonne durch die Fenster in das geräumige
Zimmer schickte. Die Möbel aus den späten fünfziger Jahren hätten
jeden Liebhaber dieser Zeit zu Begeisterungsstürmen hingerissen.
Vor dem Fernsehgerät standen zwei honigfarbene Cocktailsessel. Auf
dem obligaten Nierentisch dazwischen lagen Fernsehzeitung und
Fernbedienung. Eine Kombination aus Wohnzimmerschrank und
Bücherregal fiel durch die luftig-leichte Konstruktion auf. Ihre filigranen
Füße schienen die Ansammlung von Fotoalben, Blumenvasen,
Zsolnay-Figürchen und Bertelsmann-Club-Büchern mühelos zu tragen.
Selbst die Stores passten perfekt in dieses Bild. Ihre grafischen
Muster harmonierten mit der Farbe der Sessel. Eine heile Welt aus
dem Jahre 1958.
Vor dem Fenster saß Magdalena von Markovics in aufrechter Haltung
an ihrem Esstisch. Die Einrichtung bildete den perfekten Rahmen
für ihre zarte Gestalt. Ebenso feingliedrig wie ihr Mobiliar, besaß
sie den anrührenden Charme vergangener Zeiten. Ihr graues
Haar umrahmte in ordentlichen Wellen ihren Kopf. Eine Perlenkette
schimmerte um ihren schmalen Hals und unterstrich die Eleganz
ihres dunkelblauen Kostüms, dem man sein Alter zwar ansah, aber gerne
vergab. Die achtzig Jahre ihres Lebens mochten nicht immer leicht
gewesen sein für Magdalena, dennoch umspielte meist ein feines Lächeln
ihre Lippen. Sie schaute auf ein Heft mit Kreuzworträtseln, den
Stift schreibbereit in der Hand. Sie hatte die Besucherin noch nicht
wahrgenommen. Obwohl Heidemarie schon in der Tür stand, klopfte
sie nochmals dagegen. Deutlich lauter. Jetzt blickte Magdalena
auf.
»Darf ich?«, fragte ihre Bekannte.
»Oh, Heidemarie. Natürlich. Komm nur rein.« Magdalena legte
den Kugelschreiber und ihre Lesebrille beiseite, erhob sich und ging
ihrer Besucherin entgegen.
Heidemarie schloss die Tür und schüttelte Magdalena herzlich die
Hand. Auch sie schien einem Bilderbuch über gepflegte alte Damen
entsprungen zu sein. Sie war vielleicht zehn Jahre jünger als Magda-
lena und konnte sich noch nicht dazu entschließen, sich zum Grau
ihrer Haare zu bekennen. Deshalb schmiegten sich weiche blonde
Löckchen um ihr Gesicht, das nahezu faltenlos und dezent geschminkt
war. Heidemarie Wieland war in früheren Zeiten eine
schöne Frau gewesen, und das stete Wissen darum hatte sich in ihre
Züge eingeprägt. Ihre blauen Augen leuchteten vor Selbstbewusstsein.
»Ich möchte nicht stören. Aber ich wollte Tibor zu seinem Ehrentag
gratulieren und ihm eine kleine Aufmerksamkeit vorbeibringen.«
Sie hielt eine in weißes Seidenpapier gewickelte Flasche in die Höhe.
»Ungarischer Rotwein. Den trinkt er doch so gerne.«
»Es ist ganz reizend von dir, dass du an seinen Geburtstag denkst.
Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.« Die üblichen Floskeln kamen
Magdalena ohne großes Nachdenken über die Lippen.
Heidemarie drückte ihr die Flasche in die Hand. »Nun, man wird
nur einmal neunzig Jahre alt. Schon eine beachtliche Leistung.« Sie
zupfte an dem Seidentuch an ihrem Hals, das ganz selbstverständlich
ihre adrette Erscheinung komplettierte und die Farben ihres weit
schwingenden Rockes wieder aufnahm. »Wo ist er denn? Hält er seinen
Mittagsschlaf?«
Magdalena gab beflissen Auskunft. »Ja, er hat sich hingelegt. Es war
heute viel Trubel. Die zahlreichen Gäste, das gute Essen.« Es hörte
sich fast entschuldigend an.
»Und dann noch der Todesfall.« Heidemarie hatte ihre Stimme etwas
gesenkt und trat einen Schritt näher an Magdalena heran. »Gerade
an seinem Geburtstag.«
»Ach, ja, natürlich.« Magdalena versuchte sich den Anschein zu geben,
als wüsste sie, wovon ihre Bekannte sprach.
»Du erinnerst dich? Elvira.« Nachdem der Groschen immer noch
nicht gefallen zu sein schien, führte Heidemarie weiter aus: »Elvira
wurde doch von Karin tot in der Abstellkammer gefunden.«
»Oh. Ja. Die Arme.« Wen sie damit meinte, war nicht klar. Magdalena
fingerte unsicher an der goldenen Brosche herum, die am Revers
ihrer Kostümjacke steckte, und machte ein betroffenes Gesicht.
Heidemarie konnte sich wieder einmal davon überzeugen, dass
Magdalenas Gedächtnis nur mehr sehr unzureichend funktionierte.
So wechselten sie noch einige belanglose Sätze. Nach ein paar Minuten
verabschiedete sie sich.
»Ich schaue die Tage wieder vorbei. Vielleicht habe ich dann mehr
Glück und Tibor ist wach. Wir sehen uns, meine Liebe.«
»Ja. Danke für deinen Besuch. Komm gut nach Hause.« Erleichtert
widmete sich Magdalena wieder ihren Rätseln.
Zweiundzwanzig Uhr
Erst abends im Bett kam ich dazu, mit Martin über den heutigen Vorfall
zu reden. Der Tag war noch mit Dingen angefüllt gewesen, die
alle zuerst erledigt werden wollten. Keine freie Minute, um miteinander
zu sprechen.
Nachdem meine Eltern sich zurückgezogen hatten, waren wir
eine Weile am Tisch sitzen geblieben. Viele Komplimente zum bemerkenswerten
geistigen Zustand meines Vaters hatte ich entgegennehmen
können. Ich war über seine körperlichen Leiden befragt
worden. Dann hatte ich noch über unser Familienleben Auskunft geben
müssen, und wir plauschten ein wenig über Schulprobleme und
Alltagssorgen. Alle Gäste waren Bekannte und Verwandte »der zweiten
Linie«. Da mein Vater nun schon neunzig war, hatte er keine
gleichaltrigen Angehörigen mehr. Seine letzte Schwester war vor
zwei Jahren gestorben. Ein einziger Freund aus Jugendtagen war ihm
geblieben. Leider war er zu alt, um die weite Reise von München
nach Kirchmünster auf sich zu nehmen. Er hatte nur angerufen und
gratuliert. Und so waren die Kinder der Freunde meines Vaters gekommen,
seine Nichten und Neffen. Musste schon seltsam für ihn
sein. Der letzte Überlebende.
Als wir endlich zu Hause waren, mussten erst so Alltäglichkeiten
abgearbeitet werden wie Vokabeln abfragen, mit dem Hund spazieren
gehen oder Kind in die Dusche nötigen. Vicky hatte mit ihren zehn
Jahren zwar ihre kleinkindhafte Wasserallergie überwunden, den letzten
Anstoß brauchte sie allerdings doch immer noch von außen.
Die Kinder brachten seltsamerweise nicht die Rede auf den Todesfall
im Altenheim. Vielleicht mussten sie die Info überhaupt erst
mal an sich ranlassen, bevor sie weitere Fragen hatten. Und ich wollte
nichts forcieren.
Deshalb saß ich also schon im Bett, als ich endlich mit Martin reden
konnte. Er kam nur in Pyjamahose bekleidet aus dem Bad. Eine
seiner netten Angewohnheiten, kein Oberteil anzuziehen. Da kann
ich mich – by the way – an seinem immer noch sehr ansehnlichen
Oberkörper erfreuen. Aber heute hatte ich keinen Sinn für Sinnlichkeit.
»Ich glaube ja nicht, dass sie zufällig gestorben ist. Du vielleicht?«
Martin setzte sich aufs Bett und schüttelte den Kopf. »Das kann
man noch nicht sagen. Solange die Todesursache nicht festgestellt
wurde, kann es alles sein. Eventuell war sie gegen etwas hyperallergisch,
und da wäre es schon möglich, dass sie einen allergischen
Schock bekommen hat und erstickt ist. Das ist jedoch pure Spekulation.
« Damit legte er sich zurecht.
Seine vernünftigen Worte konnten mich nicht einlullen. »Also ich
glaube ja, dass sie ermordet wurde.« Ich runzelte die Stirn und cremte
mir schwungvoll die Hände ein. »Aber kannst du dir den Grund
denken, warum einer Elvira umbringen sollte? Aus welchem Motiv?
Eifersucht ja wohl bestimmt nicht! Habgier? Kann ich mir auch nicht
vorstellen. Sie verdient wahrscheinlich nicht viel als Altenpflegerin,
und wenn sie Geld hätte, würde sie dort nicht arbeiten. Also warum
dann?« Ich blickte meinen Ehemann auffordernd an.
»Vielleicht sollte etwas vertuscht werden?« Ich konnte ihm ansehen,
dass er lieber schlafen statt raten wollte.
»Du meinst, sie hat was gesehen? Und der andere wollte nicht, dass
sie das sieht und weitererzählt?« Diese Idee könnte man weiterverfolgen.
Die hörte sich interessant an.
Er hob zustimmend das Kinn. »Oder sie haben wüste Sexspielchen
in der Abstellkammer getrieben und es ging schief.« Damit rückte er
näher an mich heran.
»Ich bitte dich! Wer soll ausgerechnet mit Elvira Sex gehabt haben?
Und ich habe heute auch keine Lust. Ich muss nachdenken!« Ich
rutschte ein Stück von ihm weg.
Er zuckte mit den Schultern, drehte sich um und löschte das Licht.
Bald, sehr bald – wie schaffen Männer es nur, so blitzschnell einzuschlafen?
– war sein gleichmäßiges Atmen zu hören. Er hatte es gut.
Er konnte auf Knopfdruck abschalten. Ich dagegen zerknautschte
mein heiß gedachtes Kopfkissen und strampelte meine Beine unter
der Decke hervor. Immer wieder kreisten die gleichen Gedanken und
Bilder durch mein Gehirn, brachten mich nicht weiter, sondern hielten
mich bloß vom Schlafen ab.
Um halb drei hatte ich die Faxen dicke. Ich stand auf, ging nach
unten zum Medizinschrank und holte mir – nein, keine Schlaftablette.
Ich nahm homöopathische Globuli. Oft erprobt und für gut befunden.
Die Kügelchen halfen auch dieses Mal. Das Gedankenkarussell
verlangsamte seine Fahrt, mir gelang es auszusteigen und ich
konnte endlich einschlafen. Eine Wohltat.