Leseprobe „Niederbayerische Affären“
PROLOG
Der silbergraue Mercedes 190 D hat es ein bisschen zu eilig und
erwischt mich von hinten, als ich gerade aus meinem Auto steige.
Ich hätte doch nicht so nah an der Landstraße parken sollen. Oder
mich wenigstens umsehen, bevor ich die Autotür öffnete. Nun, zu
spät. Ich fliege durch die Luft wie ein Dummy bei einem Aufpralltest
und krache mit voller Wucht auf den Asphalt.
In der Zeitung steht später, ich wäre sofort tot gewesen. Das
wird auch der Polizist sagen, als er die traurige Nachricht meinem
Mann und meinen vier wunderbaren Kindern überbringt und sie
ihn mit großen, schreckgeweiteten Augen stumm anstarren.
Aber was wissen die Lebenden schon. Von »sofort« kann keine
Rede sein. So ein Flug durch die Luft kann verdammt lang dauern,
wenn man weiß, man hat keine Chance mehr. Und man es nicht
fassen kann, dass man so blöd gewesen ist.
EINS
Gehen wir in der Zeit ein paar Wochen zurück. Hier stapfe ich
gerade an einem düsteren Wintermorgen mit meinem Hund
durch den Wald. Es ist kalt. Hoher Schnee liegt auf dem Weg, der
das Vorwärtskommen anstrengend macht. Es hat in der Nacht
nochmals viel geschneit. Wenn ich nach Hause komme, werde ich
Schnee räumen müssen. Macht auch nichts. Ist mein persönliches
Fitnesstraining. Genauso wie die täglichen Spaziergänge mit
meiner Hündin, einem Retriever-Mischling. Schwarz mit hellen
Pfoten. Ein Scheinriese. Wie bei Jim Knopf. Aus einiger Entfernung
erscheint Runa wie ein großer schwarzer Hund, um den
ängstliche Leute einen Bogen machen. Kommt man aber näher,
bemerkt man ihre schwarzen Schlappohren und ihr freundliches
Gesicht. Sieht man ganz genau hin, schaut sie auch mit ihren drei
Jahren noch wie ein süßer Welpe aus, den man am liebsten durchknuddeln
möchte.
Nun, wir arbeiten uns auf dem Weg so langsam voran, jede mit
ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Runa erschnüffelt sich an bestimmten
Stellen die Vorstellung eines dominanten Rüden, den sie anzicken könnte.
Sie steht auf diese Machotypen, bei deren Begegnungen ich tief und ruhig
weiteratme, versuche, keinen Angstgeruch auszuströmen.
Ich dagegen denke an die blauen Augen des Nachbarn.
Er ist erst vor einigen Wochen mit seiner Frau in das Haus gegenüber
eingezogen. »Berger« heißen sie. Das habe ich ein paar Tage
nach dem Einzug an ihrem Briefkasten gelesen. Ich trug gerade
abends den Müll zur Tonne, als mir in den Sinn kam, dass ich noch
immer nicht wusste, wie die Neuen eigentlich heißen. Also hielt
ich nach beiden Seiten Ausschau, ob mich auch keiner von den anderen
Nachbarn beobachtete, und wieselte schnell über die Straße,
um am Briefkastenschild nachzuschauen. Ich musste mich hinunterbücken,
um es lesen zu können, da die Straßenlaterne ein gutes Stück entfernt stand.
»Berger«, entzifferte ich und wollte mich gerade befriedigt umwenden,
als mein Blick auf den dunklen Wintergarten fiel. Dort stand ein Mann,
trank aus einem Glas und beobachtete mein Treiben. Mein Gott, wie peinlich!
Ich schaute schnell weg, richtete mich stolz zu meiner Größe von
einhundertsechsundsechzig Zentimetern auf und versuchte, einen
würdevollen Abgang hinzubekommen. Mir strömt jetzt noch bei
der bloßen Erinnerung das Blut heiß ins Gesicht.
Diesen missglückten Erstkontakt hat meine mittlere Tochter
Susanne wieder gerichtet. Sie meinte ein paar Tage später, es wäre
nur höflich, endlich bei den neuen Nachbarn mit Salz und Brot
zu klingeln und sie in unserer Nachbarschaft willkommen zu
heißen. Mit ihren elf Jahren ist ihre soziale Kompetenz sehr gut
ausgebildet, wie ihre Lehrerin ihr ins letzte Zeugnis schrieb.
Recht hat die Frau. Und Susa hatte natürlich auch recht mit ihrem
Vorschlag. Also legte ich Meersalz und einen Laib selbst gebackenes
Biodinkelbrot in einen kleinen Weidenkorb. Damit sie
gleich wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Scharte meine drei
Mädels als Schutzwall um mich, ihr Bruder Linus war eh nicht da,
atmete tief durch und versuchte, die zu meinem Alter passende
Reife auszustrahlen.
Da es Samstagnachmittag war, trafen wir die neuen Nachbarn
zu Hause an. Eine hübsche blonde Frau öffnete uns die Tür und
schaute uns fragend an. Wir erklärten, wer wir sind und was wir
wollen, und bald schon standen Herr und Frau Berger vor uns.
Die beiden machten einen sympathischen Eindruck.
Ich gab mir Mühe, die nette, kompetente Nachbarin von gegenüber
zu geben und Herrn Berger nicht in die Augen zu schauen.
Ein kurzer Blick am Anfang hatte mir gezeigt, dass sie amüsiert
zuckten, seine Augen, und in einem sagenhaften Blau erstrahlten.
Huskyaugen. Die dunklen Wimpern, Augenbrauen und Haare sowie
die leicht schräge Stellung der Augen verstärkten diesen Eindruck
noch. Gefährlich attraktiv für eine Hausfrau in den Vierzigern,
die schon lange verheiratet ist.
Nun, wir brachten diesen Tribut an die Konvention erfolgreich
hinter uns und tauschten die Vornamen aus. Sie heißen Verena und
Ben – eine seltsame Kombination, fand ich. Nachdem wir die Einladung
ausgesprochen hatten, am Abend doch bei uns auf ein Glas
Wein vorbeizukommen, zogen wir zufrieden ab.
Etwas ließ mich dann doch stutzen: Ich trieb meine Kinderschar
gerade aus dem nachbarlichen Gartentor und wandte mich dabei
um. Als freundliche Geste wollte ich den beiden nochmals zuwinken.
Aber sie sahen mir mitnichten sanft lächelnd hinterher. Bens
Hand lag auf der Türklinke. Er blickte auf seine Frau hinab. Mit einem
sehr angespannten Gesichtsausdruck. Meine Augen schossen
zu Verena. Uh. Welch streitbare Miene! Mit zusammengezogenen
Augenbrauen schien sie auf ihn einzuzischen. Da wurde die Tür geschlossen.
Wohl doch nicht alles eitel Sonnenschein bei diesem Pärchen.
Ich zuckte mit den Schultern. Mich geht es ja nichts an.
Von da an sahen wir uns häufiger. Nicht nur, weil wir direkt gegenüber
wohnen, sondern auch, weil sie wirklich nett sind. Verena
arbeitet im Moment ebenfalls nicht außer Haus. So verbringen wir
oft Stunden unserer Vormittage zusammen und machen, was gute
Nachbarinnen auf der ganzen Welt so miteinander tun: Kaffee
trinken, Rezepte austauschen, über Ehemänner lästern und den
Dorfklatsch durcharbeiten. Obwohl Verena fast zehn Jahre jünger
ist als ich, haben wir ungefähr eine Wellenlänge. Nun, sie interessiert
sich für meinen Geschmack ein bisschen zu viel für Kosmetik,
kurze Röcke und hochhackige Schuhe. Auch liest sie eher Versandhauskataloge
als ein Buch mit mehr Inhalt und weniger Bildern.
Aber wenn man – so wie ich – als Großstadtpflanze von München
aufs Land gezogen ist, darf man in der Wahl seiner Freundinnen
nicht so kritisch sein.
Auch unsere Ehemänner haben nichts aneinander auszusetzen,
wobei Männer da eh nicht so mäklerisch sind. Martin, mein Mann,
unterhält sich bei unseren gemeinsamen Zusammentreffen mit Ben
übers Angeln, bevorzugte Biermarken und die letzten Fußballspiele
der Bundesliga. Beide scheinen damit zufrieden. Inzwischen
traue ich mich, Ben ab und zu in seine blauen Augen zu schauen,
und werde auch nicht mehr jedes Mal rot dabei. Ich verdränge unsere
erste Begegnung, und langsam gelingt mir die Selbsttäuschung,
sie hätte gar nicht stattgefunden.
Die Lage unserer Häuser erlaubt es mir, morgens einen ersten
Blick auf Ben zu riskieren, wenn er in sein Auto steigt und zur Arbeit
fährt.
Er ist ein sportlich durchtrainierter Enddreißiger, und auch aus
einiger Entfernung schafft es sein morgendlicher Elan, mein Herz
ein bisschen schneller schlagen zu lassen. Beim Einräumen der Geschirrspülmaschine
spitze ich durch die Küchenvorhänge und
freue mich, wenn ich ihn sehe. Ein harmloses Vergnügen, finde ich.
Nichts, wofür ich mich schämen müsste. Schließ- lich bin ich eine
glücklich verheiratete Ehefrau eines Oberarztes mit vier gesunden
Kindern, einem geräumigen Haus und keinen finanziellen Sorgen.
So etwas setzt man in der heutigen Zeit und in meinem Alter nicht
mehr leichtfertig aufs Spiel. Damals als Studentin, ja, das war etwas
anderes. Aber nicht mehr mit dreiundvierzig Jahren. Ist sowieso
alles Unsinn. Schließlich hat er eine junge hübsche Frau, die
weniger Fettpölsterchen und Falten kaschieren muss als ich. Also
Schluss damit!
Aber manchmal treiben meine Gedanken ohne Zensur, und seine
wahnsinnig intensiven Augen tauchen auf meinem inneren Bildschirm
auf. So wie jetzt, auf meinem Spaziergang durch den Wald.
Und hier erlaube ich mir, auch meinen unsinnigen Träumen nachzuhängen.
Da hören wir hinter uns den Motor eines Wagens. Das heißt,
nur ich registriere ihn wirklich. Runa interessiert sich nicht für
Autos. Anders als ein uns bekannter Sennenrüde, den alles kaltlässt,
auch eine zickige Runa. Aber wehe, es fährt ein Auto vorbei.
Da weiß er sich nicht zu bremsen. Runa aber steckt weiterhin ihre
Nase in den Schnee.
Ich riskiere einen Blick über meine Schulter zurück. Ein schmutziger
Kastenwagen kommt mühsam durch den hohen Schnee die
ansteigende Waldstraße hochgefahren. Manchmal drehen die Räder
durch, und er schlingert etwas zur Seite.
Wer ist denn das?, frage ich mich. Der Waldkindergarten ist
heute geschlossen. Außer mir ist hier keiner. Ich versuche, gegen
das mulmige Gefühl anzudenken. Wir leben hier in einer sicheren
Gegend. Noch nie ist etwas passiert. Soweit ich weiß. Außerdem
habe ich ja Runa.
Der Wagen schleicht an mir vorbei. Der Mann hinter dem Steuer
nickt mir fast unmerklich zu. Dunkelhaarig, unrasiert, mit buschigen
Augenbrauen. Kein vertrauenerweckender Typ. Ich kenne
ihn nicht. Aber da ist er auch schon vorbei. Fährt oben auf dem
Parkplatz einen weiten Bogen, um dann wieder den Weg hinunterzuzuckeln.
Was will der bloß hier? Diesmal fährt er vorbei,
ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Wie gut! Eigentlich
lächerlich, gleich so ängstlich zu reagieren! Wenn mir dieser
Mann im Großstadtdschungel begegnet wäre, hätte ich mir auch
nichts dabei gedacht. Aber einsame Waldwege im winterlichen
Dämmerlicht machen mich anscheinend immer noch furchtsam.
ZWEI
»Wie konntest du nur seine Wahl unterstützen?« Meine dunklen
Locken stehen schon in alle Richtungen ab, so echauffiert mich dieses
Thema.
Heike rutscht schuldbewusst auf dem Sofa herum. »Na, ich
dachte, er wäre nicht so schlimm. Im Gegenteil. Er machte so einen
tatkräftigen Eindruck. Wir von der ›Wählergemeinschaft östliches
Rottal‹ wollten dringend eine Veränderung, und der Alfons
Hinterdobler schien der richtige Mann für den Landratsposten zu
sein.«
»Der war und ist doch untragbar. Und schau nur, wie der sich
impertinent in die Politik unserer Stadt einmischt! Meint, als Landrat
wäre er hier der King.«
»Ja, das sehe ich jetzt auch.«
Nun ist sie ziemlich kleinlaut, die Heike. Ich jedenfalls weide
mich daran, dass sie ihre Fehleinschätzung zugibt. Heike hat einen
Fehler gemacht, und sie kann es nicht abstreiten. Tralalalala! Das
macht mich jetzt in Ihren Augen nicht gerade sympathisch, nicht
wahr? Eigentlich bin ich auch nicht so. Aber aus Heikes Mund zu
hören, dass es falsch war, diesen Typen bei der Landratswahl zu
unterstützen, ist einfach eine zu große Genugtuung. Sie war so eine
überhebliche Besserwisserin, als Hinterdobler die Wahl gewonnen
hatte.
»Hast du heute auch die Werbung von der Firma HIDO in der
Zeitung gesehen? ›Nach Umstrukturierung wieder für Sie da!‹ Große
Worte, große Schweinerei!«, rege ich mich weiter auf. »Das
Fuhrgeschäft von Hinterdoblers Sohn ist in eine GmbH umgewandelt
worden.« Ich hole tief Luft. »Und was meinst du? Alles
wird so weitergeführt wie vorher, mit denselben Lastwägen und
denselben Mitarbeitern! Bis auf den Max Huber. Denn der war ja
schließlich der ›Querulant‹, der einen Betriebsrat bei der HIDO
gründen wollte. Die anderen haben schon Arbeitsverträge angeboten
bekommen. Allerdings mit weniger Lohn als vorher.